Lore ist todkrank und sie weiß es. Krebs im Endstadium, metastasierend. Was sie noch nicht genau weiß: wie geht sterben. Lores Tochter kümmert sich um sie. Am Ende, am Ende eines Lebens geht es nicht mehr, geht es nicht mehr so, wie es immer gegangen ist. Lore kämpft längst nicht mehr um ihr Überleben. Sie kämpft, sterben zu können.
Blau tickt der Morgen
selten nur
hilft die Pracht der
Blätter. Sanduhr rinnt.
Sonntag, 18. Oktober
Ich bin fest entschlossen, Lore beizustehen und ihrer Tochter Kathi. Spaziergang im Hauptfriedhof in herbstlich trüber Atmosphäre. Staunen über die alten Gräber und aufwendigen Grabmale. Man hat es sich etwas kosten lassen, den Tod. Man will nicht vergessen werden. Ich liebe Friedhöfe, die Eigenheit und die Stille. Im Sommer saß Lore noch mit ihrem Urenkel am Tisch, der unaufhörlich plauderte. Sie hörte nur zu. Wach und aufmerksam, sog jeden Laut der Atmosphäre noch einmal auf. Er nimmt die Dinge, wie sie kommen. Auch den nahen Tod. Das vereinfacht Vieles.
Donnerstag, 22. Oktober
Jeden Morgen kommt der Pflegedienst, versorgt Lore und kleidet sie an. Lore will noch ins Wohnzimmer in ihren Sessel. Dann ist sie müde, schläft sehr erschöpft mit hochgelegten Beinen und dicker Decke. Sie friert ständig. Über Nacht kann Lore nicht mehr allein bleiben. Wir wechseln uns ab, Kathi und ich. Vier Tage Kathi, drei Tage ich. Lore ist glasklar im Kopf, will regeln, was zu regeln ist.
Mittwoch, 28. Oktober
Ich bin nicht dran. Versuche mich auszuruhen. Ich muss handeln gegen die Gedanken. „Gar nichts erlebt, auch schön!“ soll Mozart gesagt haben. Recht hat er. Genug in petto, was zu tun und zu erledigen sein wird. Aber das tröstet mich nicht.
Freitag, 30. Oktober
Der Palliativdienst, ein Arzt und eine Schwester kommen pünktlich. Wir erwarten sie unruhig. Lore ist 87 Jahre alt und weiß, wie es um sie steht. Bei klarem Bewusstsein diktiert sie ins Protokoll: keine lebensverlängernden Maßnahmen, keine künstliche Ernährung und keine künstliche Beatmung. Ihr Wunsch ist eindeutig.
Am Abend sind wir allein, Lore und ich. Vertraut, als sei es immer so gewesen. Lore zeigt mir einen letzten Brief an ihre Enkelin. Bis in die Nacht erzählt sie vergangene Geschichten.
Sonntag, 1. November
Die Situation erfordert Bereitschaft und Handeln im Umgang mit Lore. Die Palliativmedizin bietet die Möglichkeit. Was wir brauchen ist ein Zeitplan und Unterstützung. Keine Nervosität und vor allem keine Angst vor dem Sterben und dem nahen Tod!
Mittwoch, 4. November
In der Nacht wieder bei Lore. Sie versucht allein zurecht zu kommen, schafft es nicht. Nichts kann sie in dieser Nacht trösten. Frühstück. Wenig Toast, etwas Kaffee. Lores Weg ist mühselig. Sie soll so lange wie möglich zuhause bleiben.
Mittwoch, 11. November
Was mir den Schlaf raubt ist die fehlende Perspektive. Was, wenn Lore in den nächsten zwei Monaten stirbt – wäre das mit dem Palliativteam zu managen? Wünschen wir, dass sie stirbt? Welche Zeitstrecke halten wir durch? Meine Schlaflosigkeit wird steigen.
Den ganzen Tag Besuch. Es ist viel zu viel los. Lore hört zu, geduldig, müde. Ratschläge, Meinungen, Gedanken. Sie will all dem nicht mehr folgen. Es ist viel zu viel.
Freitag, 13. November
Lore schläft sehr friedlich in ihrem Sessel. Ich habe rasend Kopfschmerzen. Wie rasant geht das weiter? Der Krebs – die Schwäche. Lores Kraft ist erschöpft. Spazierengehen wirkt. Mein Kopfweh lässt nach Was bedeutet das ES? Dass ES lange dauert, bis Lore stirbt? Und was bedeutet es, ihr zu wünschen, bald zu sterben? So weit bin ich noch nicht. ES! ist ein Dilemma. Ich bekomme wieder Kopfschmerzen.
Sonntag, 15. November
Langer Spaziergang im Park. Die Angst wegpacken und weitergehen. Nur im Handeln geht es mir gut. Langsam komme ich zur Ruhe. Gedankenschleifen ändern sich und enden.
Montag, 16. November
Gegen Mittag ruft Kathi an. „Mutti stirbt!“ sagt sie am Telefon halbwegs gefasst. Die Nacht muss sehr erschöpfend für beide gewesen sein. Als ich eintreffe, hat sich die Lage etwas entspannt. Morphium wirkt zuverlässig. Ich trete an Lores Bett, stelle mich vor und frage, ob sie mich erkennt. Sie schüttelt den Kopf, sichtbar ungehalten. Lächelt uns dann aber abwechselnd an. Das ist gut – Lore wird mich akzeptieren. Es beruhigt sie, dass wir ab sofort zu zweit sind.
Dienstag, 17. November
Was kommen mag? Lore ist nicht ansprechbar und sehr unruhig. Morphin Tröpfchen geben, besänftigen. Einen Kaffee anbieten. Ein paar Löffelchen – mehr nimmt sie nicht. Wir wissen nicht weiter. Wie lange kann dieser Zustand dauern? Lore liegt mittlerweile schief im Bett. Wir schaffen es nicht, sie zu bewegen. Sie ist zu schwer und wir sind nicht geschult in der strengen Pflege im und am Bett. An einer Patientin, die nicht mehr mithelfen kann …
Der Palliativarzt kommt allein, ohne Schwester. Kurz schildern wir unser Anliegen: Palliativ stationär. Irritiert sagt der Arzt nur knapp, er hätte ein Bett frei, aber er möchte die Patientin nicht verlegen. Sie liege so ruhig in ihrem Bett. Das stimmt. Doch Monate der Intensivpflege können wir nicht leisten. Der Arzt schüttelt nur den Kopf. Er wisse nicht, ob er Lore in der kommenden Woche noch sieht. Gut, dann bleibt sie hier in ihrem Zuhause.
Lore liegt im Sterben. Es ist eine Frage der Zeit, wie lange der Tod noch auf sich warten lässt.
Blau tickt der Morgen
… fröstelnd lauert der Tod
und die Sanduhr rinnt …
Mittwoch, 18. November
Nachts wird Lore oft sehr unruhig. Sie schreckt hoch, stöhnt und schläft dann wieder ein. An der Wand mahnen die Ahnen. Was machen sie mit dir? Was bewirken sie, Lore? Fragen sie dich? Holen sie dich? Wo bist du, wie weit bist du schon weg? Sprechen kannst du nicht mehr, nur deuten, zwinkern, den Mund verziehen oder verschließen. Vielleicht willst du auch nicht mehr.
Donnerstag, 19. November
Morgens am Sterbebett. Gedanken kreisen. Jetzt verstehe ich, warum die Weiber früher murmelnd um einen Sterbenden saßen. „Helfen sie der Seele aus dem Körper?“, frage ich Lore, frage ich mich, frage ich hilfesuchend ins Zimmer. Heute kommt Lores Enkel. Ständig kämpft er mit den Tränen. Es ist ein schwerer Gang für ihn. Beim Abschied weint er, ruft: „Ciao Oma! Mach´s gut!“ Danach fährt er, zurück in sein Leben. Wir bleiben hier, am Sterbebett.
Freitag, 20. November
Wo Lore jetzt ist, weiß niemand. Die Abendschwester hat gestern gesungen und gebetet. Ich musste aus dem Zimmer gehen, denn Tränen überfallen mich. Ich will vor Lore nicht weinen. Meine Frage, was zu tun ist, wenn sie gestorben ist, konnte ich nicht stellen. Der Kloß im Hals war zu dick. Lores Augen sind nun halb geöffnet. Weit weg und leicht gespenstisch. Sie schaut mich nicht mehr an. Es wird noch dauern, eine kurze Zeit. Vielleicht muss ihr Sohn noch einmal kommen, damit sie gehen kann. Wenn Kathi und ich für Lore singen, verzieht sich ihr Mund zu einem Lächeln.
Samstag, 21. November
Lore schläft die ganze Nacht friedlich. Es ist eindeutig. Sie wird sehr bald sterben. Heute sieht sie aus wie ein Schulmädchen. So zart und rosig. Sie ist sehr warm. Ob sie Fieber hat? Nachmittags bin ich allein. Lore und ich ruhen uns aus. Ich schlafe zwei Stunden wie ein Stein. Es ist bereits dunkel als ich aufwache. Der Abendpflegedienst empfiehlt, konsequent zu lagern. Das ist schwierig, denn für Lore bedeutet jedes Umbetten und Pflegen, Schmerz und Stress. Wir versuchen das zu vermeiden. Lore soll nicht mehr gestört werden. Jedes Geräusch irritiert sie. Lore reagiert und versucht, sich zu orientieren. Ihr Kopf fährt dann unruhig hin und her. Die Augen, halb geöffnet. Laute Gespräche kann sie nicht mehr ertragen. Bei starker Unruhe dürfen wir noch ein Morphium Pflaster kleben.
Kathi hat sich Wolle und Stricknadeln mitgebracht. Wenn sie jetzt an Lores Bett sitzt, strickt sie. Das wirkt sehr vertraut und gemütlich.
Sonntag, 22. November
Am siebten Tag ihres Sterbens liegt sie sehr friedlich in ihrem Bett. Hier sitzend, das ist momentan der schönste Ort, denn morgens lausche ich der Stille, den leisen Atemgeräuschen und meinen eigenen Gedanken. Gestritten haben wir, Lore und ich uns nie. Wir sind zu harmoniebedürftig. Das eine oder andere hätte es schon gegeben, was eine Auseinandersetzung verdient, vielleicht sogar einen Streit gerechtfertigt hätte. Aber wozu? Wir haben beide intuitiv erkannt, dass sich dies gar nicht lohnt. Wir entstammen unterschiedlichen Generationen mit eigenem Schicksal und verschiedener Herkunft. Am Ende des Lebens ist das alles bedeutungslos. Ärger aus der Vergangenheit verschwindet.
Am Nachmittag kommt Lores Sohn. Gott sei Dank. Es ist ein freundlicher Nachmittag. Lore schläft entspannt und friedlich. „Offensichtlich muss jeder Lebensfaden einzeln abgeschnitten werden,“ sagt ihr Sohn.
Lore wirkt zufrieden. Alle waren da. Jetzt ist es genug.
Montag, 23. November
Wie jeden Morgen frühzeitig an Lores Sterbebett. Ich habe gut geschlafen. Allerdings von Lore geträumt, die mich umarmt, so anders als gewohnt. Da bin ich aus dem Bett gesprungen, um nachzusehen, ob sie noch lebt. Es schien, als sei sie mir erschienen.
Eine Schwester vom Palliativdienst kommt am Abend. Ruhig besprechen wir die Lage. Der Arzt ist nicht dabei. Eine Verlegung steht nicht mehr zur Debatte. Mittlerweile sind viele Körperstellen schwarz, der Rücken wund. An beiden Beinen Totenflecken. Nur das Herz schlägt, ruhig und regelmäßig. Ihre Atmung ist langsam und flach.
„Von guten Mächten wunderbar geborgen, erwarten wir getrost was kommen mag …“, beten wir.
Dienstag, 24. November
Lore war vollkommen ruhig, die ganze Nacht. Kathi und ich, wir schlafen beide nicht. Wir erwarten den Tod. Nachts war es kalt im Haus. In dieser Nacht friere ich erbärmlich, sitze mit Schlafanzug, Pullover und Strickjacke im Bett. Nichts kann mich wärmen. Der Tod war da …
Lores Herz schlägt, doch die Atmung ist unhörbar leise. Es riecht, es riecht anders. Der Tod ist da, sagt Kathi. Mehr sagt sie nicht. Alles ist gesagt
Blau tickt der Morgen
und die Sanduhr rinnt …
… nüchtern lauert der Tod
Ich traue mich nicht zu lüften. Draußen ist es sehr kalt. In mir gibt es keine Antwort mehr. Das Atmen fällt mir schwer in dieser schwülen Luft. Und die Ahnen schauen herab. Ein Seufzer von Lore lässt mich hochschrecken. Sie schließt die Augen. Und sie bleiben geschlossen. Ich halte Lores Hand, fühle ihren Puls und nehme Kathis Hand. Wir sind ein Kreis. Lore atmet noch einmal vernehmbar, erleichtert, seufzend. Der Puls ist nicht mehr zu fühlen. Ihr Herz bleibt stehen. Nach einer langen Weile nicke ich: „Sie hat es geschafft!“
Du hast das eindrucksvoll beschrieben: Eine Geburt ist schwer. Jede Geburt ist schwer. Und Eure Lore, unsere Lore, ist gerade eben wieder geboren worden. Wir wünschen ihr, wir wünschen Euch Glück und Erfüllung.
Tante Ursi und Onkel Arnold