Mam wurde heimlich Fünfzig. Sie wollte dieses Jubiläum nicht an die große Glocke hängen, war sie doch etwas älter als ihr geliebter Lebemann an ihrer Seite. August, Ferienzeit in Bayern, da brechen dann auch die Lehrer endlich in den Urlaub auf. Mam war frankophil, lernte französisch auf der Volkshochschule und las Krimis en français. In diesen Ferien planten meine Eltern auf ihren Wunsch eine Rundreise durch Frankreich. Ihr Geburtstag sollte in Paris gefeiert werden – wo sonst?
Strahlend brachen meine Mutter und mein Vater eines Morgens auf. Mam trug ein grünes Sommerkleid. Sie war bereits leicht gebräunt und wie immer sehr schön, vielleicht schon etwas erholt von dem gnadenlosen Schulalltag als Lehrerin, den sie hasste. Sie legte eine Stola um ihre Schultern, setze sich auf den Beifahrersitz unseres alten VW Käfers und freute sich auf die nächsten Tage. Mein Vater zupfte an seinem weißen Tennishemd, lachte mich an und sagte dann streng: „Rosa, dass mir nichts zu Ohren kommt!“ Ich war vierzehn Jahre alt, noch lange nicht erwachsen, kämpfte mit einer hässlichen Zahnspange und trug bereits mächtig Verantwortung. Haus und Hund hüten. Na denn.
Mein Bruder, noch im Schlafanzug beobachtete das Schauspiel von seinem Zimmerfenster aus. Ich glaube, er war froh, dass die beiden endlich mal ohne uns verreisten. Als meine Eltern hupend um die Ecke verschwanden, zog er seinen Kopf wieder zurück. Patsy, unser Hund bellte ein bisschen und trottete dann zurück ins Haus. Was nun? Ich hatte auch Ferien. Erst einmal einen Kaffee kochen. Seit ich endlich in der Mittelstufe des Gymnasiums war, hatte ich mir das angewöhnt. Keinen Kaba mehr, dieses Kindergetränk! Ich wollte erwachsen werden. Ein langer Tag lag vor mir. Ich stimmte meine Geige und begann zu spielen.
Irgendwann steckte Hajo seinen Kopf in mein Zimmer. „Ich gehe zum Bitcher, bis später.“ Bitcher war ein Freund von ihm. Nun war ich ganz allein im Haus. Weiter üben hatte ich keine Lust mehr. Ich rief Julia an. Sie hatte bereits einen Freund, einen Klassenkameraden von mir. Den wollten wir besuchen. Da klingelte das Telefon: „Kommst du zurecht Rosali? Wir sind bereits an der Grenze. Alles Gute, deine Mam.“ Ich konnte mit diesem Anruf nicht viel anfangen. War das Kontrolle?
Am Abend war die Bude voll qualmender Jungs. Hajo hatte eine Truppe Freunde eingeladen, eigentlich ganz nette Kerle. Ich gesellte mich dazu. Bitcher war bereits total betrunken, Heinrich hatte wohl mit Drogen zu tun, schaute stoisch in den Fernseher und hielt verkrampft meine Hand. Hajo fragte, ob wir nicht etwas zu essen hätten. Ich hatte mit Julia zusammen eingekauft mit dem Haushaltsgeld, das mein Vater mir gegeben hatte. Das würde niemals reichen, wenn so viele Leute bei uns auf der Couch herumliegen und mitessen würden. Das war der Anfang.
In den nächsten Tagen hatten sich die bunten Gesellen bei uns munter eingenistet. Es war wie in einem Spielfilm. Wohngemeinschaft – eine SommerWG – niemand machte irgendetwas. Auf der Terrasse standen die Teller vom Vorabend, das Ketchup wurde in der südlichen Morgenhitze ranzig, die Butter schmolz und die Milch wurde sauer. Ich war völlig überfordert, überall lag irgendjemand. Doch ich wollte keinen rausschmeißen. Sie sind doch alle ganz nett … oder?
Meine langhaarigen Freunde fanden die sturmfreie Bude auch super und verlegten sofort ihren Treffpunkt von der Mainbrücke zu uns. Sie schleppten ihre Musikinstrumente herbei und tönten auf dem Flügel meiner Mutter. Das passte mir gar nicht, doch im Moment konnte ich nichts machen. Die jungen Kerle philosophierten großspurig auf unserem Teppich, tranken den Wein aus unserem Weinkeller und glaubten, große Musiker zu sein. In Wahrheit lagen sie bereits um sechs Uhr abends betrunken unter dem wunderbaren Instrument meiner Mutter.
Das Telefon klingelte: „Rosali, ist bei euch alles in Ordnung? Wir sind in der Provence – es ist traumhaft schön hier an der Cote d´Azur!“ schwärmte meine Mutter. Ich räusperte mich laut, um den Hintergrundlärm zu überdecken. „Alles bestens – ich komme gut zurecht“, log ich. Julia kam mir zu Hilfe, wie immer. Sie kochte Spaghetti, räumte die Küche auf und half mir die betrunkenen Light – Philosophen wieder nüchtern zu machen. Wir deckten den Tisch am Fußboden, mit Tischdecke, dem schönsten Geschirr meiner Eltern und leiser Musik. Wir hatten die Bande für uns eingenommen.
Einer der Kerle wollte sich nicht benehmen. Er fuhr mit einer Hand in seinen Spaghetti Teller, rührte mit den Fingern die Soße und fragte vorwurfsvoll: „Wie frisst man das Zeug?“ Niemand sagte etwas, ich war entsetzt und hatte große Lust, die ganzen Typen einfach rauszuschmeißen. Da erhob sich der betrunkene Freund meines Bruders, sagte nichts, packte den Leichtphilosophen am Hemdkragen und setzte ihn in die vollgelaufene Badewanne. Abkühlung – es war August im Süden und sehr heiß. Eine leise Genugtuung entstand. Der Pitschnasse fluchte laut und verschwand ohne unser Candle-light-spaghetti-dinner weiter zu genießen. Danach war es ruhiger. Es sagte niemand etwas. Wir aßen am Fußboden und hörten leise Musik.
Am nächsten Morgen klingelte das Telefon: „Hallo, wir sind´ s. Wir sind jetzt in Paris!“ Ich gratulierte meiner Mutter zu ihrem Geburtstag und fuhr mir durch die Haare. Überall lagen Flaschen, Zigarettenkippen und Leute. Kerle, die ich zum Teil nicht einmal kannte. Ich begann aufzuräumen. Am Abend sprach ich mit meinem Bruder. „So geht das nicht weiter. Ich habe kein Geld mehr, der Weinkeller ist leer und die Bagage ist immer noch da.“ Alle Musikinstrumente der Leichtphilosophen standen im Wohnzimmer. Gitarren, Flöte, ein Verstärker. Niemand spielte, sie waren zu sehr mit sich selbst beschäftigt.
Mein Bruder und ich planten den Rausschmiss zu spät, leider. Wie jeden Morgen genossen wir die Augustsonne. Ich war immer als erste auf und kochte Kaffee. Mein Bruder kam danach und dann Heinrich – ihn mochte ich gerne, obwohl er sehr auf Drogen abgefahren war. Er kam trotzdem sehr pünktlich morgens. Er wollte Kaffee und eine schwarze Gauloise ohne Filter. Dann saßen wir in der sommerlichen Sonne im Garten, auf dem Rasen mit unseren Kaffeebechern und unserer Jugend – es war bereits heiß. Noch im Nachthemd, glücklich – ließ ich mich einfach ins Gras fallen – ein Sommertraum.
Da klingelte es an der Haustür. Meine Mutter stand braun gebrannt mit ihrer Reisetasche vor der Tür und mein Vater räumte bereits den Kofferraum unseres Käfers aus. Ach je – wohin mit der Gesellschaft? „Wir sind wieder da! Schön war´s“, riefen die Eltern gut gelaunt. Und dann sahen sie das Chaos. „Freut sich denn keiner?“ fragte mein Vater fast verzagt und leicht vorwurfsvoll. So kannte ich ihn nicht. Ich umarmte meine Mutter und gratuliere ihr noch einmal zu ihrem Geburtstag.
Es war ein Fiasko – das Ende einer SommerWG. Meine Eltern kamen einen Tag früher als geplant.
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